Für den Lebenszyklus eines Autos gibt es einfache Regeln. Beginnend mit der Markteinführung ist ein Modell sechs bis zehn Jahre am Markt verfügbar; in Ausnahmefällen vielleicht auch drei bis vier Jahre mehr. Zur Hälfte der Zeit gibt es eine größere Modellpflege. Und wie das mit Regeln so ist, werden sie durch Ausnahmen bestätigt. Eine der größten Ausnahmen im Regelwerk automobiler Lebenszyklen dürfte der Jaguar XJS sein. Sein Lebenslauf ist mit 21 Jahren nicht nur rekordverdächtig lang, sondern voll von Überraschungen und Kuriositäten. Ich habe mich damit in den vergangenen Wochen beschäftigt, als ich auf einen Testbericht aus dem Jahr 1975 gestoßen bin. Die Geschichte des XJS hat mich so in ihren Bann gezogen, dass ich dazu diesen Beitrag verfasst habe.
IAA 1975: Das soll der Nachfolger des E-Type sein?
Das Licht der Welt erblickt er auf der IAA im September 1975. Mit dem Jaguar XJ-S feiert der Nachfolger des E-Type endlich Premiere! Er tritt ein herausforderndes Erbe an. Schließlich war der E-Type nach 14 Jahren Bauzeit der bis dahin erfolgreichste Jaguar aller Zeiten. Entsprechend gebannt schaut die Fachpresse auf diese Markteinführung.
Die Titelseite der auto motor und sport wird dem XJ-S bereits im August 1975 gewidmet. Die Journalisten durften nämlich schon einige Wochen vor der IAA in Großbritannien zum Test anrücken.
Die äußere Form wird im ersten Testbericht nüchtern als „sportlich, aber nicht sonderlich aufregend“ bewertet. Dagegen bekommt der für den XJ-S überarbeitete V12-Motor mit 5,3 Litern Hubraum und Lucas-Einspritzanlage gute Noten. „Zusammen mit der geradezu erstaunlichen Geschmeidigkeit dieses V12, der selbst bei niedrigsten Drehzahlen sauber anspricht und völlig vibrationsfrei hochdreht, sorgt dieser ruhige Lauf für eine beispielhaft gepflegte Form der Fortbewegung“, so die Journalisten im Testbericht.
Interessanterweise haben die Käufer des XJ-S zu Beginn noch die Wahl zwischen einem (antiquierten) Viergang-Schaltgetriebe und einer (ebenso antiquierten) Dreigang-Automatik von Borg-Warner. Insbesondere mit dem Schaltgetriebe bot das V12-Coupé dennoch wettbewerbsfähige Fahrleistungen. Sowohl Beschleunigungswerte als auch Höchstgeschwindigkeit sind ebenbürtig zu etablierten Größen wie BMW 633 CSi, Mercedes 450 SLC und Porsche Carrera. Nichtsdestotrotz wird der XJ-S mit Schaltgetriebe nur 352 Mal (weltweit) produziert und 1978 mangels Nachfrage eingestellt, eine der kleineren Kuriositäten im Lebenslauf.
Immerhin: Bei der Markteinführung 1975 ist das XJ-S 5.3 Coupe das weltweit schnellste Serienfahrzeug mit Automatikgetriebe!
Sehr modern, den Kunden aber deutlich zu trist präsentiert sich das „sportliche“ Armaturenbrett der ersten Serie des XJ-S. Es kommt leider ganz ohne das von Jaguar erwartete Wurzelnußholz im Innenraum aus. Dafür bietet es mit vier neuen, rechteckigen Walzenuhren sowie einem ausgeklügelten System von 19 Kontrollleuchten im Kombiinstrument neue Informationsstandards.
Die ersten 5 Jahre: Wird der XJ-S ein kurzlebiger Flop?
Die Fachpresse war in den ersten Jahren also nicht euphorisch. Bekanntheit erlangt der XJ-S in seiner Anfangszeit auch als zweiter Hauptdarsteller in der erfolgreichen britischen Fernsehserie Simon Templar – Ein Gentleman mit Heiligenschein (1978–1979), in der der Protagonist ein weißes XJ-S 5.3 GT Coupé mit dem Kennzeichen ST-1 fährt.
Doch das reicht nicht für einen kommerziellen Erfolg. Der XJ-S ist kein echter Sportwagen mehr wie sein Vorgänger, und die Käufer wissen ihn nicht recht einzuordnen. Hinzu kommen die internen Schwierigkeiten bei Jaguar Ende der 1970er Jahre. Die vielen Streiks bei British Leyland gipfeln im Jahr 1977 und sorgen für handfeste Qualitätsprobleme. Und so kommt es in seinen frühen Jahren zur ersten größeren Kuriosität im Leben des XJ-S. Während vom Vorgänger E-Type in dessen letztem ganzen Produktionsjahr (1973) noch 4.686 Fahrzeuge produziert wurden, brechen die Zahlen mit dem XJ-S ein. In den ersten fünf Jahren werden vom XJ-S keine 2.000 Stück pro Jahr produziert, wie die VIN-Historie verrät. Das Allzeittief liegt bei nur 1.057 Stück im Jahr 1980. Kein guter Start eines neuen Modells und überhaupt kein gutes Omen für den weiteren Lebenslauf.
Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass der XJ-S ganze 21 Jahre am Markt bleiben und mit über 115.000 Exemplaren noch weitaus erfolgreicher als sein Vorgänger werden sollte…
Bevor wir zum Befreiungsschlag des XJ-S kommen: Im nachfolgenden YouTube-Video nimmt uns der Autojournalist Harry Metcalfe mit auf einen Roadtrip in seinem Jaguar XJ-S der ersten Serie. Die Fahrt von Südengland nach Monaco zeigt auf unterhaltsame Weise, was für ein tolles Reiseauto der XJ-S auch nach heutigen Maßstäben noch ist.
Jahr 6: Mit dem XJ-S H.E. gelingt der Befreiungsschlag
1981 erfolgt nach sechs Jahren die erste große Modellpflege: Der Jaguar XJ-S H.E. wird eingeführt. H.E. steht für „High Efficiency“, womit Jaguar in der Modellbezeichnung auf eine Überarbeitung des Brennraums referenziert. Man hat ein Prinzip des Schweizer Ingenieurs Michael May umgesetzt, bei dem eine gewölbte Ausformung des Brennraums für eine bessere Verwirbelung des Benzin-Luft-Gemischs und damit für ein höheres Verdichtungsverhältnis und eine vollständigere Verbrennung sorgt.
Wenn einer gehängt werden soll, dann hat er oft die besten Ideen – eine englische Weisheit, die sich bei Jaguar offenbar wieder einmal bestätigte.
Einleitender Satz zur Modellpflege des Jaguar XJ-S H.E. in der auto motor und sport 6/1982
Die prominente Positionierung des HE-Zusatzes mit einem „Fireball-Brennraum“ (so bezeichnete Jaguar den neu geformten Brennraum in seinen Broschüren) kann man rückblickend als gelungene Marketing-Aktion einordnen. Tatsächlich dürften andere Faktoren für den Erfolg dieser Modellpflege-Maßnahme ausschlaggebender gewesen sein (dazu gleich mehr).
Die erhoffte Wirkung erzielte der Fireball-Brennraum jedenfalls: „Der günstigere Drehmomentverlauf des HE-Motors bringt vor allem im unteren Drehzahlbereich einen wesentlich kraftvolleren Antritt und ein besseres Durchzugsvermögen mit sich. Benötigte das Vorgängermodell noch 8,7 Sekunden, um aus dem Stand auf 100 km/h zu beschleunigen, erreicht der XJ-S H.E. diese Marke schon eine Sekunde früher“ (so auto motor und sport im Testbericht der Ausgabe 6/1982).
Für die Kunden ist aber viel wichtiger, dass der H.E. auch eine neue (weniger störanfällige) Einspritzanlage erhielt, eine längere Achsübersetzung, breitere Reifen, neue Sitze, neue (weniger wuchtige) Stoßfänger und vor allem – endlich Holzeinlagen und mehr Leder im Innenraum!
Kurzum, man hat aus der Kritik der ersten Jahre gelernt und mit überschaubaren Mitteln erfolgreich in die Attraktivität des XJ-S investiert. So passiert sechs Jahre nach Modelleinführung tatsächlich das, woran fast niemand mehr glaubt: Die Produktionszahlen ziehen an und haben sich bereits 1982 mit über 3.100 Stück mehr als verdoppelt.
Es ist eine weitere Kuriosität im Lebenslauf des XJ-S, dass nach über sechs Jahren Produktionszeit endlich die Nachfrage anzieht und erstmalig das geplante Niveau erreicht!
Jahr 8: Ein Sechszylinder und der erste Versuch eines Cabrios
Mit diesem H.E.-V12 Aggregat wird der XJ-S nun ganze zehn Jahre lang verkauft, von 1981 bis 1991. Er bleibt aber nicht lange die einzige Motorisierung. 1983 wird mit dem XJ-S 3.6 endlich ein effizienter Sechszylinder ergänzt. Es handelt sich um einen völlig neu konstruierten 3,6 Liter-R6 (AJ-6) mit 222 PS.
Und es konmt 1983 (nota bene im achten Jahr des XJ-S!) noch eine weitere Modellvariante hinzu, mit der sich die Geschichte in gewisser Hinsicht wiederholt. Mit dem XJ-SC wird der Versuch unternommen, die Attraktivität des XJ-S durch ein Cabriolét zu erhöhen, das vielfach nachgefragt wird. Es handelt sich allerdings noch nicht um das spätere, vollwertige Cabriolét. Jaguar entscheidet sich zunächst der Einfachheit halber für eine einfachere Version mit zwei herausnehmbaren Dachhälften ohne Rücksitze (dort wurde Platz geschaffen für die beiden Dachhälften). Diese Fahrzeuge laufen als reguläre Coupés bei Jaguar vom Band und werden bei Tickford (einem damaligen Tochterunternehmen von Aston Martin) zum XJ-SC umgebaut. Die Folge sind hohe Preise und lange Wartezeiten.
Das Ergebnis ähnelt der Anfangszeit des XJ-S: Die Nachfrage nach einem Cabriolét ist groß, aber in dieser Konstellation wird der XJ-SC kein Erfolg. Insgesamt werden in 5 Jahren nur etwas mehr als 5.000 Stück produziert.
Jahr 13: Endlich ein erfolgreiches Cabriolét
Was macht man also mit einer Modellvariante wie dem XJ-SC, die zwölf Jahre nach der Markteinführung am Markt nach wie vor nicht ankommt? Im Falle von Jaguar nimmt man neuen Anlauf: Dreizehn Jahre nach Markteinführung wird endlich ein „richtiges“ Cabriolét präsentiert, eine weitere Kuriosität im Lebenslauf des XJ-S.
Das XJ-S Cabriolét löst also 1988 den XJ-SC ab. Obwohl es bis 1991 ausschließlich mit der kostspieligen Zwölfzylinder-Motorisierung angeboten wird, war es vom Stand weg äußerst erfolgreich – die weltweite Nachfrage nach dem XJ-S zieht merklich an. 1989 war das absatzstärkste Jahr im gesamten Lebenszyklus des XJ-S!
Eine echte Kuriosität für einen automobilen Lebenslauf: 15 Jahre nach Markteinführung steht der XJ-S in der Blüte seines Lebens, das dürfte einzigartig in der Branche sein…
Jahr 16: Der XJ-S wird zum XJS
1991 folgt eine weitere Modellpflege inklusive einer (zaghaften) Umbenennung: Die Serie 3 wird mit zahlreichen Veränderungen als „Jaguar XJS“ eingeführt. (Herausfordernd für Liebhaber ist heute übrigens der Umstand, dass viele dieser Veränderungen bereits 1989 fertig entwickelt waren und in den Jahren von 1989 bis 1991 schrittweise und „schleichend“ in die Serie überführt werden.)
Der XJS von Jaguar, einst als E Type-Nachfolger gedacht, geht ins 17. Produktionsjahr und hat noch nichts von seinem Flair verloren.
auto motor und sport Ausgabe 18/1991
Die auffälligsten Veränderungen des XJS sind die neuen, dunkel getönten Rückleuchten in Rechteckform, ein neuer Kühlergrill und rahmenlose Seitenfenster. Das ist aber bei weitem nicht das Ende der Fahnenstange: Fast die Hälfte aller Karosserieteile wurde für den XJS geändert. Im Innenraum wurde aufgeräumt, ohne den Charakter des XJS zu zerstören. Das neue Kombiinstrument mit Holzeinfassung wurde aus dem modellgepflegten XJ40 übernommen.
Neu im XJS ist auch der aus dem XJ40 bekannte 4.0-Liter Sechszylinder AJ-6. So kommt es, dass in der auto motor und sport 1991 ein weiteres Mal ein „neuer“ XJS getestet und für gut befunden werden konnte.
Das Votum der Journalisten fällt 1991 jedoch differenzierter aus. Es ist nicht mehr die Überlegenheit des Antriebs, die den XJS wie in den früheren Jahren auszeichnet. Schließlich haben die Marktbegleiter die Messlatte mit Modellen wie dem Mercedes 500 SL (R129), dem BMW 850i (E31) etc. signifikant weiterentwickelt. Es ist 1991 das Flair, der Stil, den man so nirgendwo anders kaufen kann. Die Messwerte offenbaren dagegen, dass der XJS in die Jahre gekommen ist. Das gilt laut den Journalisten besonders für den Sechszylinder: „Er dynamisiert das formschöne Coupé in nicht ganz adäquater Weise und lässt, um mit dem Bild der alten Werte zu sprechen, schon einen VW Corrado oder Opel Calibra zum ebenbürtigen Gegner werden“ (auto motor und sport 18/1991).
Jahr 18: Ein Paukenschlag mit 6 Litern
Im Jahr 1993 ist es soweit: Jaguar stellt nach langen Jahren der Entwicklung den grundlegend überarbeiteten Sechsliter-Zwölfzylinder vor. Damit konnte endlich ein V12 im XJ40 eingeführt werden, was das Ende der klassischen XJ12-Limousine der Serie III bedeutete. Auch der XJS profitiert vom neuen Aggregat und kann als XJS V12 nun mit über 300 PS aufwarten. Er erhält auch eine zeitgemäße Viergang-Automatik von GM.
Bereits 1992 wird übrigens unter der Regie von Ford entschieden, die Entwicklung eines Nachfolgers mit dem Codenamen X100 zu beginnen. Daraus wird später bekanntermaßen der 1996 eingeführte Jaguar XK8.
Bis dahin darf der XJS aber noch seinen Lebensabend als hochwertiges, im Markt einzigartiges Sportcoupé in vollen Zügen genießen…
Das Sondermodell „XJS Celebration“ ist die letzte Serie des XJS und wird anlässlich des 60. Geburtstags der Marke Jaguar aufgelegt. Man erkennt diese Serie an Lederpolstern mit weißen Kedern, in die Sitze eingeprägtem Jaguar-Logo und besonderen Holzeinlagen im Innenraum.
Am 4. April 1996 rollt im historischen Jaguar-Werk in der Browns Lane in Coventry schließlich der letzte Jaguar XJS vom Band, ein XJS V12 6.0 Coupé in Ice Blue. Nach diesem ungewöhnlichen Lebenslauf voller Kuriositäten kann man erahnen, dass der Abschied vielen Jaguar-Mitarbeitern nicht leicht gefallen sein dürfte.
Was bleibt nach 21 Jahren Produktionszeit? Aus meiner Sicht ist es eindeutig. Der Jaguar XJS ist ein echter, klassischer Jaguar. Problembehaftet zu Anfang, hat er sich erfolgreich durch zwei große Krisen gearbeitet, sich beständig weiterentwickelt und gerät am Ende mit über 115.000 produzierten Einheiten zum bis heute meistverkauften Jaguar-Sportwagen.
Stand heute gibt es noch viele gute Exemplare, deren Marktwert aber in den vergangenen Jahren deutlich angezogen ist. Um es mit den Worten des Autosammlers Magnus Walker zu sagen:
The Jaguar XJS ist the Next Big Thing!
Autosammler Magnus Walker
Warum er das so sieht, erläutert er uns in diesem Video. Es stellt zugleich einen würdigen Abschluss für meinen Rückblick auf 21 Jahre Jaguar XJS dar.
Wie ist Eure Sichtweise zum Jaguar XJS? Besonders interessieren würden mich zugebenermaßen Erfahrungsberichte von Liebhabern, die einen XJS ihr Eigen nennen… 🙂
Super Artikel, der den Werdegang des XJS auf den Punkt bringt…
Wer einen Jaguar XJS 4.0 Convertible Celebration (wie auf dem vorletzten Foto) in Aktion erleben will, kann sich gerne diesen Beitrag von AutokulturTV anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=f3tqlkxfzX0
Mein weißer Jaguar XJS V12 1993er Baujahr war mein schönstes Auto. Ich bin es 130.000km gefahren, nachdem ich es 1999 von Jaguar in Kronberg i. Taunus gebraucht mit ca. 75.000km gekauft hatte. In den Anfang der 2000er wohnte ich in Ambach am Starnberger See – auf 200 Einwohner kamen 3XJS. Barfuß im XJS auf der Seestraße zum perfekten Badeplatz zu fahren, war einer der vielen magischen Momente. Für den XJS gab es ganz viele positive Kommentare. In meinem Münchner Büro am Eisbach traf dann mein XJS auf einen ice-blue E-Typ, vom Grafen der die oberste Etage als Stadtwohnung nutzte…..immer ein schönes Zusammentreffen. Die München Jaguar Niederlassung war irgendwann leider nicht mehr im Stande das Auto korrekt zu warten – die neue Klimaanlage hat einfach nicht funktioniert und ist bei Tempo 200 „explodiert“…ohne Klimatisierung entwickelt das Fahrzeug aber zu viel HItze, so daß man es nicht mehr im Alltag fahren kann – leider trennten sich so die Wege von meinem XJS und mir…..trauere ihm aber immer noch nach